Goethe.

Ein Essay von REZA HAFIZ

Ich habe an der Goethe-Universität in Frankfurt studiert – in der Stadt, in der Goethe geboren wurde.

Jeden Morgen ging ich an seinem Namen vorbei. Für mich war er lange Zeit ein Schriftzug auf einem Gebäude, auf meinem Studentenausweis, auf Briefköpfen.

Damals glaubte ich, Goethe sei etwas für Germanisten, für ältere Herren mit Pfeife oder Frauen mit Lesebrille.

Jahre später, außerhalb des Hörsaals, als das Leben mir selbst Vorlesungen erteilte – über Verlust, über Sehnsucht, über die Zerbrechlichkeit unseres Lebens – da fing ich an, ihn zu lesen.

„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“ – kaum ein Satz hat für mich die Menschheit je so treffend beschrieben.

Goethe hat Worte gefunden für das, was wir selbst nicht über uns aussprechen wagen.

Er erlaubt uns, zerrissen zu sein. Und gleichzeitig ganz. Denn er selbst war nie nur einer. Er war alles: Dichter, Denker, Minister, Liebender, Reisender, Kind seiner Zeit – und dennoch seiner Zeit so weit voraus.

Goethe war nicht vollkommen. Er war ein Mann mit Abgründen, mit Widersprüchen, mit Licht und Dunkelheit – und genau das macht ihn so nahbar, so menschlich, so ehrlich. Er war Genie und Getriebener, Liebender und Verlorener, Forscher und Verzweifelter.

Und vielleicht ist das seine größte Leistung: Er hat sich nie festgelegt. Er blieb in Bewegung. Fühlend. Fragend.

Goethe war kein Moralist. Er war ein Beobachter. Er erklärte nicht, er fühlte. Er diktierte keine Wahrheiten, er erlebte sie.

Heute, Jahre nach meinem Studium, sehe ich Goethe nicht mehr als Statue. Ich sehe ihn als Begleiter. Denn was mich heute mit ihm verbindet, ist nicht seine Genialität. Es ist seine Menschlichkeit. Ich lese ihn, wie man einen alten Freund liest, den man früher unterschätzt hat.

Heute denke ich: Wie seltsam und schön, dass ich genau dort studieren durfte, wo sein Name täglich durch die Flure schwebte.

Goethe hat mir etwas beigebracht, das kein Professor, kein Lehrbuch, kein Vortrag je hätte lehren können: Dass Größe nicht im Wissen liegt, sondern im Erkennen – auch der eigenen Widersprüche.

Und wenn ich über ihn spreche, spreche ich nicht über einen Dichter. Ich spreche über einen Mann, der wusste, wie weh das Leben tun kann – und der dennoch seine Schönheit genossen hat.

REZA HAFIZ